CYBERPUNK

KITZEL DER LEERE

 

Erst siehst du Cyberpunk. Dann trägst du Cyberpunk. Dann isst du Cyberpunk. Dann bist du Cyberpunk.

- Das Evangelium nach dem Visualisten Markus –

 

Cyberpunk ist das „neue Fleisch“, das in Cronenbergs Videodrome verheißen wird. Es ist die Gestaltgewordene Videomaschine, nicht vom skurrilen Denken eines Schöpfers ersonnen, sondern entstanden aus der Existenz von Technik. Kopien vorstellend, ohne Original zu sein, projiziert der Cyberpunk, ohne zu wissen, woher oder was, weil nichts da ist – außer dem äußeren Schein. Sein Merkmal ist Beliebigkeit, sein Einfluss digital, entpersonifiziert. Es ist der Einfluss der Technik. Das „neue Fleisch“ des Cyberpunk ersteht aus der Existenz von Technik, aus Medialität.

Eine bestimmte Schreibhaltung – die den Namen „Cyberpunk“ erhielt – versucht diesen Mechanismus zu sichern. Nur wo der Mensch in Bewegung ist, wo er den „Kitzel“ verspürt, ist er nicht endgültig, nicht auch in seinen eigenen Augen Maschine. Daher ist der

Cyber-Punk gleichermaßen angezogen wie abgestoßen von der Omnipotenz der Technik, will den Teufel mit dem Belzebub austreiben. Seinem „Kitzel“, den er als MTV-Freak, Computer-Junkie oder Spaltter-Adept in einem unaufhörlichen vergeblichen Bestreben, ihn zu befriedigen, aufsucht, liegt die Blaupause sensorischer Überlastung zugrunde – die Prägung von Menschen, die mit Sektierern, CDs, Lasershows und The Wall-Performances – mit einem Wort: MTV – aufgewachsen sind und deren Horizont sich nach optischer Maßgabe ausrichtet. Als Cyber-Punks sind sie Mischwesen, Cyborgs mit polierter Außenhülle und glatt geschliffenem Müsli-Gehirn, die die Romantik des Fleisches nicht abgelegt haben, weil der „Kitzel der Leere“ sie an der Unmöglichkeit erinnert, sie nicht einem Sinn zu unterstellen, der ihnen den Status von Individuen verliehe, Ihr Kitzel, den sie als Werbereferendare, Politmoderatoren und Computerhacker zu befriedigen versuchen, ist der Kitzel des Homo futurus von gestern, der Vergessen in einem Selbst der Technik finden will, die selbst nicht ist.

Der Mann, der diesen Maga-Blast in die Gefilde der Since Fiction trug, ist William Gibson, Jahrgang 1948, Prophet der Cyberpunk-Bewegung und ihr erster, streng genommen auch einziger Vertreter. Mit seinem Erstling Neuromancer (1984) schrieb er einen Roman, der alle wesentlichen Aspekte dessen, was später literarisches Genre werden sollte, vereint. Genau wie dessen Fortsetzungen Biochips (1986) und Mona Lisa Overdrive (1988) gründet der Roman auf Voraussetzungen, die Gibson mit drei Kurzgeschichten geschaffen hatte, die seit 1981 in Omni erschienen waren. Die erste Erzählung, „Der memonische Johnny“ führte den Sprawl ein, eine ausgedehnte Stadt, die sich von Boston bis nach Atlanta erstreckt, sowie eine Welt des Datendiebstahls und im Auftrag von Konzernen handelnder Attentäter. Hier gibt auch Molly Million ihr Debüt, eine Profi-Killerin mit künstlichen Augen und Rasierklingen unter den Fingernägeln, die in verschiedenen Inkarnationen alle drei Romane heimsucht. „New Rose Hotel“, eine Sprawl-Erzählung von 1984, baut darauf auf und führt die Idee der Industriespionage und des Übertritts von Top-Wissenschaftlern von einem Konzern zum anderen in Gibsons Welt ein. Die mittlere Sprawl-Erzählung. „Chrom brennt“ (1982), liefert das wichtigste Element, den Cyberspace. Der Cyberspace, eine künstliche Landschaft hinter dem Monitor, entstand durch die Verbindung aller größeren Computer-Netzwerke der Welt. In ihm sind Datenspeicher und Rechenanlagen durch Computergenerierte Formen repräsentiert, die als Orientierungspunkte für die“Konsolen-Jockeys“ dienen, wenn sie durch Gleichschaltung von Gehirn und Computer – das so genannte „Interfaces“ – in den Cyberspace eintreten. Die drei Romane haben verschiedene Handlungsträger, außer ein oder zweien, wie Molly. Jeder führt ein eigenständiges Leben, was Gibson die Möglichkeit gibt, eine Vielzahl von Facetten seiner Welt vorzuführen. Am Ende der Romane münden die Leben der Protagonisten jedoch zusammen, fallen wie Stücke eine Puzzle an Ihren Ort und zeigen auf, was „eigentlich“ geschehen ist, verfälschen Simulation zu Wirklichkeit. Biochips bezieht sich dabei auf Charaktere und Ereignisse in Neuromancer, während Mona Lisa Overdrive alle Elemente der ersten beiden Romane umfasst und ihre Bedeutung im Gesamtentwurf der Geschichte offen legt. So enthüllt sich, dass jede Person nur Teil eines größeren Zusammenhangs war, dessen durchlaufender roter Faden Cyberspace heißt. Es geht einzig um diesen Raum hinter dem Monitor, darum wie er sich entwickelt und wie die Menschen sich zu ihm verhalten.

 

Neuromancer ist der Roman-Archetyp für die Transzendierung des Raums. Er musste von seinem schreibenden Interpreten missverstanden werden, vom Start weg. Ungeachtet der spezifischen Qualitäten Gibsonschen Schreibens, seiner Zentriertheit um das Prinzip Cyberspace, wurde ein Rezept gebraut und sich flugs auf die Suche nach Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Pi mal Daumen im gleichen Zeitraum veröffentlichenden Autoren gemacht. Unter Beihilfe einiger Redakteure und Herausgeber (v. a. Ellen Datlow von Omni und Gardner Dozois von Isaac Asimov´s Since Fiction Magazine) sowie den PR-Abteilungen der interessierten Verlage („interest“ – engl. Zins) wurde so eine „Bewegung“ ins Leben gerufen, deren Stabschwingender Tambourmajor Bruce Sterling war. Und der zu allen Unglück gleich doppelt.

Beinahe zeitgleich mit Gibson hatte Sterling in zwei Romanen eilfertig die Geschichte der Since Fiction der vierziger bis sechziger Jahre nachgeschrieben, bevor er von 1982 bis 1985 mit dem Mechanisten/Former-Zyklus (fünf Erzählungen, enthalten in der Sammlung Zikadenkönigin, sowie dem Roman Schismatrix) dem Cyberpunk Nahrung gab. Daneben trat er bis 1986 – ursprünglich unter dem Pseudonym Vincent Omniaveritas (die siegreiche Allwahrheit) – auch mit zahlreichen einblättrigen Ausgaben seines Fan-Magazins Cheap Truth hervor: als Einpeitscher „der ursprünglichen Literatur einer postindustriellen Gesellschaft“. Das mangelnde Verorten von Eigenheiten – ein Charakteristikum des

Cyber-Punks – stellte sich als bipolares Spagat dar, das theoretisch ein Selbst ansiedeln will, dem die praktische Grundlage fehlt. Seine Verdoppelung als Sterling/Omniveritas bestätigt nur den Nicht-Ort des Selbst. Die Auslagerung seines theoretischen Kalküls an den Moloch Außenwelt glich dabei – klassisch gesehen – der Auslagerung seiner Seele, ihres Verlustes an die nachrichtenmediale Umwelt. Vincent als Phantom, das nach Kittler „an Schnittflächen von Sprache und Körper entsteht“, auf der Ebene der von High-Tech-Paneelen glitzernd zurückgeworfenen Konturen des Narzissmus, sollte die Gewähr für die Existenz des fiktionalen Autorenwesens Bruce bieten. (Auf den schillernden pekuniären Sinngehalt des britischen Vaternamens Pound Sterling, der sich etwa in dem gerade in den USA erschienen, von Gibson und Sterling gemeinsam verfassten viktorianischen „Steampunk“-Roman The Difference Engine niederschlägt, sei an dieser Stelle nicht weiter eingegangen.) Die antagonistische und damit entfunktionalisierte Dialektik von Sprache und Körper. Theorie und Praxis, theoretischem und praktischen Schreiben diente dazu, die Implosion zu verbergen, die Gibson in die SF eingeführt hatte, indem er das Wesen des Cyber-Punks offen legte, den Einsturz der Schanzwälle zu kaschieren, zwischen denen unbeschadet vom lärmenden Heulen  der Granaten sich gut orientieren lässt, die Polarität von Vater und Mutter, Genre und Mainstream, Mechanisten und Former wiederaufzurichten. Kurzum: So wurde Gibson bedrohlich sinnfernes Implosions-Schreiben, das nicht vom dezentrierten Sein spricht, sondern es vorführt, in ein geregeltes überführt.

 

Die so genannte Geschichte des so genannten Cyberpunk belegt dies. Nachdem Protagonist (Gibson) und Graue Eminenz (Sterling) einmal feststanden, war bald eine Gruppe zusammengestellt, deren Verbindendes Ihre „Verbundenheit mit der Kultur der achtziger Jahre“ war. Die disparaten Ausprägungen, der Fragment-Reichtum der Techno-Zivilisation, den das Gibsonsche Werk widerspiegelt, kamen Sterling/Omniaveritas gerade recht, um unter unermüdlichen Propagandabemühungen einen Überbau zu konstruieren, der den Cyberspace zum undurchdringlichen Mythos verklärte und mit griffigeren, weil selbst gestrickten „Cyberpunk“ identifizierte. Jeder Autor, der etwas zu dem Phänomen „Cyberpunk“ beitragen konnte wurde okkupiert. Sterling, der in seinem eigenen Schreiben (natürlich) evolutionäre Zusammenhänge auslotet, legte die Romane Video-Kid, Schismatrix und Inseln im Netz vor, und auch seine Storysammlung Zikadenkönigin enthält Beiträge in dieser Richtung. John Shirley, wie der SF-New Waver Michael Moorcook (gelegentlich Sänger von Hawkwind) nebenbei Rockmusiker, präsentierte scharfkantige High-Tech-Szenarien, die sich in Punk-Attitüde mit medientechnischen Mitteln gegen den Medienfaschismus des Pop-Alltags zu wenden versuchen (siehe neben Erzählungen vor allem die Eclipse-Triologie.) Tom Maddox, als „Writing Director“ am Evergreen State College in Olympia/Washington tätigt, befasste sich in Kurzgeschichten und bisher einem, noch unveröffentlichten Roman (The Second Programm) mit den Auswirkungen künstlicher Intelligenz auf die menschliche Sexualität, wie es in einer Handvoll Stories – teilweise schon sehr früh – auch Pat Cadigan, der einzige „weibliche“ Cyber-Punk, tat. Rudy Rucker wurde seiner flippigen, mathematisierten Beatnik-Art wegen, die Acid-Trips und jesuitischen Transzendentalismus mittels verpoppter wissenschaftlicher Gadget „down to earth“ – bringt, gern hinzugezählt. Von Sterling favorisiert wurde zu dem Greg Bear, ein heilloser Visionär vom Schlage Arthur C. Clarkes, der in zwei, drei Erzählungen und dem Roman Blutmusik (1985) eine new wave-mäßige Innenweltansicht der Hardcore-Landschaft unserer Zeit bietet.

 

 

Beispielhafte andere Vertreter sind Marc Laidlaw, Lewis Shiner und Paul Di Pilippo, die vor allem deshalb dazugerechnet werden, weil sie in Sterlings „wegweisender“ Cyberpunk-Anthologie Spiegelschatten (1986) enthalten sind.

All diese Titel kann man böswillig jedoch als kybernetische Trittbrettfahrer auf dem Oldsmobil der Werbung betrachten, die einerseits das Sterlingsche Axiom des Cyberpunks als einer literarischen „Bewegung“ erfüllen, die politischen Wert für sich beansprucht, andererseits in ihrer Gesamtheit (einschließlich Gibson, der seinen Erstling Neuromancer durch die Romane Biochips und Mona Lisa Overdrive zur Trilogie erweiterte) den Pop-Widerhall eines auf breiter Front ablaufenden Dezentrierungsprozesses bilden. Auch wenn neueren Romanen von Bruce Sterling, Walter John Williams, Michael Swanwick, Lewis Shiner, Richard Kadrey, W. T. Ouick oder Michael Blumlein gelegentlich Adeptentum bescheinigt wurde, was immerhin von einer gewissen Aufmerksamkeit und Skepsis gegenüber der „Bewegung“ zeugt, ist damit nicht der Kern des Phänomens getroffen. Es geht nicht um Politik, es geht auch nicht um Vermarktung. Die Strategien von Sterling  & Co. Sind kein bewusster Akt, sondern bedienen sich – besser: werden bedient von den Ikonen einer maschinisierten Gegenwelt, die stets von neuem in der Flüchtigkeit unserer Zeit den Ort des Nicht-Seins auszufüllen versuchen. Es sind Bilderwelten, die in einer Eigendynamik folgen und ihren Anwendern die bloße Illusion von Schöpferkraft geben. Welche Ausmaße und welche Gewalt  das Phänomen, das zuerst in Form von Gibsons Cyberspace an die Öffentlichkeit getreten ist, wirklich hat, wie automatisch und uneinholbar todernst es voranschreitet, zeigt die Computerindustrie.

 

 

In der Computerindustrie werden die Begriffe „Cyberspace“ oder „virtuelle Realität“ nämlich seit einiger Zeit benutzt, um eine Wirklichkeit zu beschreiben, die in unendlich vielen Varianten existieren und funktionieren kann, ohne tatsächlich vorhanden zu sein. Die Frage nach der Künstlichkeit von Realität stellt sich nicht mehr. Die Gewähr für Ihre Existenz ist subvertiert. Die gleiche Bewegung zeichnet Cronbergs Kinoklassiker Videorome aus und war seinerzeit (1982) noch Garant dafür, dass hierzulande nicht in die Kinos kam. Doch Zeit ist schnelllebig. Bereits diesen Sommer hat die Firma VPL ein Video-Spiel auf den Markt gebracht, bei der die Hand des Spielers direkt ins Spiel projiziert wird. Und das ist nur der erste Schritt auf dem Weg dahin, den ganzen physischen Körper, die Gesamtheit der Sinne, in den Cyberspace zu implantieren. Die dazu erforderlichen Technologien haben Spezialisten aus dem Bereich „Künstliche Intelligenz“, größtenteils ehemalige Computer-Hacker, bereits entwickelt. Mit einer Weitwinkeloptik und zwei Miniatur-TV-Bildschirmen – für jedes Auge einen, um den Stereoeffekt zu garantieren – wird das menschliche Sehvermögen simuliert.

 

 

Mikrofone dienen dazu, Sprache zu entziffern, um zum (nicht mit dem) Computer reden zu können. Kopfhörer ermöglichen die Arbeit mit 3-D-Sound, und ein Verfolgungssystem teilt dem Computer die Position im virtuellen Raum mit. Auf diese Weise kann nach klassischer Horror-Manier – wie vorzüglich vorgestellt im Film Reanimator – bereits Kopf und die an Ihn gekoppelte Wahrnehmung transferiert werden. Um den gesamten Körper lebensecht in Cyberspace agieren zu lassen, arbeitet man zur Zeit an der Perfektionierung mit Fiberoptiksensoren bestückter Ganzkörper-Anzüge, die in der virtuellen Umgebung das noch gewohnte Körperbild simulieren. Sobald die Serienreife erfolgt ist, steht der Erweckung des „neuen Fleisches“ damit nichts mehr im Weg.

Der Unterschied zwischen Cyberspace-Literatur und Cyberspace-Technologie wird hinfällig, wenn Realität zur Beliebigkeit implodiert. Im Schnittpunkt beider radiert sich das historische Subjekt aus Cyberpunk, wie von Sterling & Co. Vorgeführt, ist der Versuch, eine Brücke zu schlagen, wo Unüberbrückbarkeit herrscht, weil es an Stützpfeilern fehlt – sie werden durch jene Medialität simuliert, die sie begründet haben soll. Auferstanden aus der Existenz von Technik bleibt am Ende nur der „Kitzel der Leere“. Seine Implosion bedeutet den Rücksturz ins Nichts. Das „neue Fleisch“ wird nie um ein Selbst gewusst haben . . .